Um offen zu sein: Ich persönlich halte das Klassentreffen für eine besonders sinistre Form des Flagellantismus. Im Klartext: Wer ohne Zwang ein Klassentreffen besucht, lässt sich quasi freiwillig verprügeln, und wenn Sie verstehen wollen, was ich mit dieser Behauptung meine, brauchen Sie bloß weiterzulesen. Den ersten verheerenden Schwinger kriegt man gleich am Anfang reingesemmelt. Ich meine damit den knalligen FrüherJetzt-Zusammenstoß, der aus der Tatsache resultiert, dass man die Anwesenden seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hat. Gerade eben erinnerte man sich noch an milchbärtige Geschöpfe, in deren Gesichtern die letzten Pubertätsgewächse ihre unansehnlichen Blüten trieben. Jetzt aber stößt man auf eine größere Gruppe von älteren Herren, die ihre restlichen ergrauten Haare in einer Art Fischgrätenmuster quer über die Platte kämmen. Versteht sich, dass davon auch die persönliche Selbsteinschätzung nicht unberührt bleibt. Urplötzlich jedenfalls ist man nicht mehr der juvenile Hüpfer, für den man sich noch vor zehn Minuten gehalten hat. Stattdessen weiß man nun wenigstens, dass man sich am besten gleich morgen auf die Warteliste für einen Altersheimplatz setzen lassen sollte. Zudem macht der Besuch eines Klassentreffens auch den letzten Hoffnungen auf eine gewisse Gerechtigkeit im Leben schonungslos ein Ende. War der Mitschüler Reinhard S. nicht immer ein veritabler Großkotz? Hätte er es nicht verdient gehabt, vom Leben gehörig eins hinter die Löffel geschmiert zu bekommen? Ganz bestimmt hätte er das. Doch ausgerechnet er hat nicht nur sein Glück bei einer verwegenen Aktienspekulation gemacht, sondern auch noch in Liebesdingen den Hauptgewinn gezogen und Brigitte, die Klassenschönste, geehelicht. Auf jeden Fall ziehen diese unersprießlichen Überraschungen die zügige Verkonsumierung alkoholischer Getränke nach sich, was den positiven Effekt hat, dass man bei der Erfindung einer spektakulären Lebensgeschichte umso ungenierter lügt und seine ehemaligen Schulhofgenossen mit den atemberaubenden Abenteuern, die man als Heizer bei der Transsibirischen Eisenbahn erlebt zu haben vorgibt, nachhaltig beeindrucken kann. Bedauerlicherweise aber neigt man unter Alkoholeinfluss ja auch zu einer größenwahnsinnigen Selbstüberschätzung, und so pirscht man sich an Brigitte heran, um ihr eine gemeinsame Flucht in Richtung Karibik vorzuschlagen. Die einzige Folge dieses Annäherungsversuchs aber ist, wenig später von Reinhard über die Fertigkeiten aufgeklärt zu werden, die er sich im Kickbox-Training angeeignet hat. Und deshalb wird man am nächsten Morgen nicht nur mit einem respektablen Kater zu kämpfen haben, sondern nach einem kritischen Blick in den Spiegel auch überlegen müssen, ob man mit einem Spendenaufruf an seine Freunde wohl genügend Geld für einen guten Gesichtschirurgen zusammenbekommt.